Raga Virga

Indische Raga & Hildegard von Bingen

 

Indische Dhrupad-Gesänge treffen auf die Lieder der Hildegard von Bingen. Diese außergewöhnliche Begegnung fand 2011 auf dem Festival montalbâne statt. Es ist ein gelungenes Experiment, zwei Welten in einem Projekt miteiander zu verbinden, die auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Das aber täuscht, denn beide Musik-Welten folgen den Regeln der modernen Musik und können so wunderbar mtieinander spielen, einander umranken und harmonisieren. Und beide Welten stammen aus dem Kontext der Kontemplation der Klöster und Tempel: So findet auch auf der spirituellen Ebene eine Bgegnung, ein Austausch und ein miteinander statt.


Amelia Cuni habe ich durch die Kölner Komponistin Maria de Alvear vor mehr als fünf Jahren kennengelernt. Amelia ist die einzige Dhrupad-Sängerin, der – obwohl nicht indischer Herkunft – große Anerkennung sowohl seitens der indischen Presse als auch der Hörerschaft zuteil wurde. Sie hat in den vergangenen Jahren Projekte sowohl traditioneller wie auch experimenteller Ausrichtung initiiert und kooperiert mit Künstlern von unterschiedlichen Backgrounds (Alte, Neue und Elektroakustische Musik, Ambient, Multimedia etc.). Mit ihr und ihrem Duo-Partner, dem Musiker Werner Durand (diverse Blasinstrumente und Elektroakustische Musik) arbeite und konzertiere ich seit dieser Zeit gemeinsam. Unser Projekt erhielt den Titel "Raga Verde" in Anlehnung an die Musik der Hildegard von Bingen, für die die grünende Lebenskraft im Mittelpunkt ihres Liedschaffens steht.

 

Im nächsten Schritt lud ich Amelia Cuni 2009 zu meiner jährlich stattfindenden "Klangwerkstatt KOLUMBA" nach Köln ein, wo sie gemeinsam mit Ars Choralis Coeln arbeitete und den Grundstein für dieses Programm legte. Auch in diesem gemeinsamen Workshop lernten wir viel voneinander, erforschten und experimentierten die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer Musik mit ihren Gesängen, die beide durch ein pythagoräisches Stimmsystem definiert werden, in dem sich die jeweiligen Modi mit ihren Melodie-Patterns entfalten.

 

Der dänische Flötist Poul Høxbro ergänzt unser Projekt mit weiteren ganz eigenen Akzenten. Auch er befaßt sich seit Jahren mit der Musik der Hildegard von Bingen instrumental mit Einhandflöten und Schlaginstrumenten. Mit seinem Instrumentarium hat er eine unverwechselbare Klangsprache geschaffen, die in unserem Projekt Ergänzung und Brücke zugleich wird.

 

So treffen in diesem einzigartigen Projekt "Raga Virga" europäische und indische Kulturen, Stile und Ausdrucksmöglichkeiten aufeinander. Sie begegnen sich – fließen ineinander. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie den spontanen, einmaligen und nicht wiederholbaren Moment suchen: Die Zeit fließt dahin und mit ihr unsere Musik. Der Mensch ist "symphonisch" gestimmt, sagt Hildegard von Bingen und meint damit, daß die gottgewollte Harmonie keine solistische Angelegenheit ist, sondern durch Zusammen-Klingen, dem gemeinsamen Klang entsteht: Nada Brahma.

 

Zum Programm:
 Aus der jüdischen Tradition, drei Mal am Tag zu beten, entwickelte die frühe Kirche im Zuge ihrer Abspaltung vom Judentum Vorstufen des heutigen Stundengebets. Der Ordensgründer Benedikt von Nursia (6. Jh.) schuf das bis heute in Klöstern praktizierte „Stundengebet“, das im Mittelalter acht und heute vier bis fünfmal am Tag stattfindet. Sinn des Stundengebets ist es, das Gebet zu Gott rund um die Erde nicht abreißen zu lassen.

 

"Ashtayama" kommt aus dem Sanskrit und heißt soviel wie: Acht Zeitzonen. Gemeint ist damit die alte, in Ritualen der Hindu-Tempeln praktizierte indische Tradition, nach der der Tag in acht Einheiten von je drei Stunden eingeteilt wird. Jeder dieser Zeitzonen ist eine eigene Musik zugeteilt, die auf einem Raga basiert. Sie alle führen auf eine Reise durch die Stunden und Stimmungen eines Tages.


Die indische Technik des Dhrupad-Gesangs gilt bis heute als Inbegriff des klassischen indischen Gesangs und hat fast alle späteren indischen Musik-Stile und Formen hervorgebracht oder beeinflusst. Als charakteristisch für den Dhrupad gilt sein streng systematischer, lang gezogener Verlauf, der sparsame Gebrauch von Verzierungen, vertrackte rhythmische Wendungen und eine kontemplative Vortragsweise. Der Name Dhrupad ist aus den Worten Dhruva und Pada gebildet und bedeutet, fester Vers. Text, Melodie und Rhythmus stehen in einem festen Verhältnis zueinander.

 

Die Grundlage der europäischen Musik ist der „Gregorianische Choral“. Heute bezeichnet man Gregorianik als die „liturgischen Gesänge der katholischen Kirche”. Das ist jedoch verkürzt und unvollständig dargestellt. Tatsächlich ist die Gregorianik der Beginn der abendländischen Musikentwicklung überhaupt! Im gesamten Mittelalter lag die Förderung, Erforschung und Ausübung von Kunst und Wissenschaft in den Händen der Kirche. Höhere Bildung war nur über die Klöster möglich. Die Wurzeln unserer Kultur sind hier zu finden. Doch letztlich ist der “Gregorianische Choral” auch ein Produkt aller Kulturen der Alten Welt: Palästina, Griechenland, Syrien und Rom. Die Melodien wurzeln tief in deren musikalischen Kulturen. Sie wurden aufgenommen, verwandelt, weitergegeben. Über Byzanz gelangten sie dann ins Abendland, wo sie erneut angepasst wurden. Doch der “alte Ton”, die Wurzel mit den typischen Modulationen in der Stimme, ist für heutige Ohren unverkennbar orientalisch.

 

Unser Programm "Raga Virga" beinhaltet Gesänge und Strukturen beider Welten. Beide Rituale wurzeln in einer Tradition der Meditation und Versenkung und zeigen bei aller Verschiedenheit der musikalischen Formen und Gesängen eine geistige und musikalischen Verwandtschaft. Während Ars Choralis Coeln eine Vesper "In Festis B. Mariae Virginis" (Marienvesper) mit gregorianischen Gesängen und Antiphonen und Responsorien der Hildegard von Bingen (1098-1179) feiert, nimmt uns Amelia Cuni mit ihren Gesängen hinein in den Tagesablauf eines hinduistischen Tempels.

 

zurück zu Programme

 

Besetzung:

Ars Choralis Coeln  (8)

mit Amelia Cuni (Dhrupad-Gesang, Tampura)

und Poul Høxbro (Flöten, Perkussion)