Mittelalterliche Marienklagen aus deutschen Handschriften
Marienklagen waren im Mittelalter in vielen Regionen Deutschlands fester Bestandteil der Liturgie in der Karwoche und geben uns heute ein klingendes Zeugnis der Volksfrömmigkeit jener Zeit.
Als Quellen gelten zwei Passagen aus den Evangelien: die Simeonsprophezieung „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (LK 2,35), und die Erwähnung, dass Maria am Kreuze steht (Joh 19,25-27).
Zahlreiche Überlieferungen ab dem 13. Jahrhundert aus ganz Deutschland zeugen von der Beliebtheit der Marienklagen. Sie waren zunächst in Latein und später übersetzt in volkssprachlicher Sprache geschrieben und als liturgische Spiele verfasst. Einige sind sogar mit genauen Regieanweisungen versehen! Erfreulicherweise sind sie uns mit Melodien überliefert, so dass wir heute in der Lage sind, sie wiederaufzuführen.
Dies hat sich Maria Jonas mit ihrem Ensemble Ars Choralis Coeln zur Aufgabe gemacht. Die Lieder aus drei Marienklagen (Bordesholm, Wolfenbüttel, Trier) vereint das Projekt „Planctus“ zu einem Konzertprogramm. Bei der Umsetzung setzt sie ganz bewußt auf die Assoziation der „Klageweiber“. Klageweiber haben eine uralte Tradition und es gibt sie seit dem alten Ägypten bis heute noch in verschiedenen Kulturen der Welt, z.B. in Irland („Keening“), in Griechenland, Georgien, Montenegro, u.a.. Die Totenklage war immer Sache der weiblichen Angehörigen. Ein griechisches Sprichwort sagt: „Frauen bringen uns zur Welt, und Frauen begleiten uns wieder aus ihr heraus.“
Und so übernimmt Ars Choralis Coeln in den Marienklagen die historische Rolle der Klageweiber, die Tränen vergossen haben auf dem Leidensweg von Jesus Christus.
Planctus – zur Entstehung der Marienklagen
Auf jenem Boden Kleinasiens, auf dem die weibliche Gottheit Artemis von Alters her verehrt wurde, wurde 431 der Grundstein zur Marienverehrung in Bild und Gebet gelegt. Im Konzil zu Ephesos wurde die Gottesmutterschaft Mariae zum Glaubenssatz erhoben.
In den ersten christlichen Jahrhunderten verehrte man Maria in dem Bild einer Frauengestalt mit zum Himmel erhobenen Armen, das zugleich die Kirche symbolisieren sollte. Erst mit dem erwachenden Mittelalter erhält sie in der Bildersprache die Gestalt der Mutter Gottes.
In der Zeit um 1000 verdichtete sich das Bild Mariae im Abendland und in den wenigen erhaltenen Werken der Goldschmiedekunst ottonischer Zeit tritt die Madonna mit dem Kind auf dem Arm (Essener Goldene Madonna) nicht nur als Gottesgebärerin auf, sondern auch als Himmelsherrscherin – jeder greifbaren Stofflichkeit entrückt und bar aller Schwerkraft.
Aus dieser distanzierten Darstellung der Jenseitigkeit tritt im Verlaufe des 13. Jahrhunderts das Marienbild der französischen Kathedralen heraus und begibt sich in eine größere Nähe zur Welt, hin zum Menschen. Im Herbst des Mittelalters entsteht dann das Bild der Schmerzensreichen mit einer neuen Einsamkeit, dem Leiden nah und des Trostes bedürftig. Das Vesperbild, in dem die Mutter den toten Sohn auf dem Schoß hält, ist ein Andachtsbild, meist auf einem abseitigen Platz des Kirchenraumes aufgestellt, das ganz auf den Menschen hin erdacht ist, der sich ihm nähert. In diesem Geiste des 14. Jahrhunderts entstanden auch die Marienklagen.
Seit der Wende zum vierzehnten Jahrhundert begann der Mensch Gott nicht allein vom Dogma her zu begreifen: die abendländische Christenheit empfand ein immer dringenderes Bedürfnis nach
persönlicher Betrachtung, dem der überlieferte liturgische Kanon nicht mehr zu reichen schien. Neue Vorstellungen bildeten sich in einer Glaubensleidenschaft und neue Gestalten traten auf: neue
Formen in der bildenden Kunst, in der Dichtung und mit ihr in der Musik. Zeugnisse davon können wir heute in den überlieferten Marienklagen hören.
Von Palmsonntag bis hin zum Gang der drei Marien am Ostersonntag erstreckt sich unser Programm „Planctus“. Es beginnt mit dem Hymnus zu Psalmsonntag (Frankreich, 9. Jahrhundert) und schlägt einen Bogen über Deutschland (14.-15. Jh.) wieder zurück nach Frankreich mit dem „Planctus ante nescia“ (12. Jh.).
Die Entstehung der deutschen Marienklagen ist u.a. in genau diesem Planctus zu suchen – doch wie dann die weitere Verbreitung erfolgte kann man heute nicht mehr zurück verfolgen. Es ist wahrscheinlich, dass sie alle aus einem gemeinsamen Fundus schöpften, wobei wiederum Einflüsse untereinander nicht ausgeschlossen werden können.
Es handelt sich bei den Text- und Melodietypen der Marienklagen nicht um Kontrafakta, sondern um einen sehr einheitlichen Grundbestand an gleichen deutschen Gesängen, der regional immer wieder leicht abgewandelt und neu zusammen gesetzt wurde. Denn ohne Frage haben die deutschen Marienklagen, ganz unabhängig davon, ob und inwieweit sie eine Bearbeitung des Planctus darstellen, einen gewissen gleichen Grundbestandteil von Text- und Melodieversikel.
Was den Planctus, der auch in der Carmina Burana zu finden ist, und sein Verhältnis zu den deutschen Marienklagen betrifft, so sind die deutschen Bearbeiter mit dem entlehnten Gut – falls es überhaupt vorlag – sehr frei umgegangen.
Die Musik ist eine flüchtige Kunst ist, die erlischt sobald sie ertönt. So können wir uns glücklich schätzen, wenn wir mit dem Erklingen der überlieferten Marienklagen nicht nur die alten Melodien wieder zum Leben erwecken, sondern auch in ihrem Klang die Gefühlswelten und Menschen der früheren Jahrhunderte erahnen, indem wir einfach: zuhören.
Maria Jonas
Besetzung:
Ars Choralis Coeln
KlosterKlaenge VI
Klangwerkstatt - November, 31.10. - 3.11., Kolumba, Köln
3.11. 12.00, 13.00, 14.00, 15.00 im Diözesanmuseum, Kolumba, Köln
Kassia & Hildegard von Bingen