Stimmungen (rein und temperiert)
Die Arbeit OPEN SUNSHINE ist dem Bildenden Künstler Ralf Schlüssel gewidmet. Dieses Stück beinhaltet die Auseinandersetzung mit verschiedenen musikalischen Stimmungen. Das bedeutet: die sogenannte reine Stimmung und die temperierte Stimmung. Klavier und Vokalensemble sind die Achse dieser beiden extrem verschiedenen Stimmungen. Bläser und Streicher jonglieren dazwischen, unterstützen jeweils eine Stimmung (temperiert) oder die andere (rein). Daher ist das Stück eine Art Kaleidoskop für Möglichkeiten eines sowohl kontrapunktischen und als auch harmonischen Verlaufs bis hin zu der Möglichkeit der Geräuscherzeugung, in der eine Tonskalierung nicht mehr erkennbar ist.
Dieses Stück ist auch eine Studie für die Komposition „Arcáico“, in der sich meine musikethnologische Neugierde für die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich der Paläo-Laryngologie und der sogenannten Primatenarchäologie zeigt, mit anderen Worten: was hat der Homo Heidelbergensis gehört und aussprechen (singen) können?
Genau diesen Umschlagspunkt der Evolution, an dem der Urmensch die kulturelle Leistung vollbringt, Gesang von Sprache zu trennen, diesen Moment will ich in meiner Arbeit spiegeln, ausgedrückt durch den Chor.
Wissenschaftlicher Hintergrund
Es gibt seit langem einen Streit innerhalb der Paläontologie, ob die Sprachfähigkeit des Menschen vor oder nach der Kunstfähigkeit des Menschen existierte. Daraus hat sich ein eigener wissenschaftlicher Zweig entwickelt, nämlich die Paläo-Laryngologie und die Paläo-Linguistik. Einer der wichtigsten Forscher ist Ignacio Martínez Mendizábal, der in der Ausgrabungsstätte Atapuerca als Biologe gearbeitet hat und sich mit den Funden von Knochen des Gehörgangs (die sehr selten erhalten sind) auseinandersetzte. Mit Hilfe von computertomographisch gestützter Rekonstruktion von Schädeln und Kopfmuskulatur fand er deutliche Hinweise darauf, was Heidelbergensis (500.000 v. Chr.) hören und auch verbalisieren konnte, im Vergleich zum heutigen Menschen. Diese Studien bestätigen, dass die Benennung von Objekten in Form von Sprache wie auch die Fähigkeit zur Abstraktion, z. B. Gesang, mit aller Sicherheit vorhanden war. Der Unterschied zwischen Singen und Sprechen war demzufolge physiologisch möglich, und daher ist das Singen als abstraktes kulturelles Ereignis möglicherweise vor der Sprache entstanden.
Der Beginn von Kultur
Meine These – und deshalb ist ein ein Vokalensemble in diesem Stück unverzichtbar – ist, dass Hörfähigkeit direkt zur Imitation bzw. zum inneren Ausdruck führt, wenn Gesang und Sprache in einem bestimmten Moment der Menschheitsgeschichte eine Einheit sind. Das heißt, dass die zivilisatorische Trennung zwischen Musik und Sprache mindestens 500.000, wenn nicht eine Million Jahre alt sein muss. Die Trennung von Gesang und Sprache bedeutet einen gewaltigen Erkenntnisschritt, nämlich die Trennung zwischen Objekt und Sein. Deswegen vertrete ich die These, dass Musik vor der Sprache entstanden ist, da die Sprache konkrete abstrakte Benennung der Umwelt bedingt, und Musik nicht. Spannend ist auch, dass man weiß, dass Konsonanten maßgeblich für die Signifikanz der Wörter sind und Anreihungen von Vokalen hingegen keine sprachorientierte Struktur ergeben, sondern zunächst Stimmungslagen und Raum-Zeit-Orientierung beschreiben – dem entsprechen auch Forschungen über Autismus, Demenz und Altersschwerhörigkeit. Somit ist auch der Stellenwert der instrumentalen Musik in meinem Stück nur dann verständlich, wenn sie sich sowohl im Bereich der reinen Stimmung, der temperierten Stimmung und als auch der reinen Klangerzeugung zwischen den Polen Vokalen bis hin zu Konsonanten bewegt.
Interessanterweise haben Konsonanten eine viel kürzere Zeitdauer als Vokale, da laut ausgesprochene Vokale den Ton viel länger tragen als eben Konsonanten, die, rein klanglich gesehen, Toncluster sind (vergl. deren elektronische Wellenform). Das bedeutet, dass Konsonanten immer für eine reinsprachliche und schnelle Kommunikation gestanden haben. Bei Vokalen kann eine längere Revierverteidigung und eine längere Beschreibung der eigenen Gemütslage stattfinden. Somit sind Konsonanten eine spätere Errungenschaft der Verständigung, aber die Benutzung von Vokalen legt nahe, dass Musik im profunden Sinne des Wortes erst sehr viel später von Sprache getrennt worden ist (siehe Brüllaffen). Das ist die Beschreibung der Forschung, mit der ich mich seit vielen Jahren beschäftige, und ich würde mir wünschen, dass sie in dem Stück OPEN SUNSHINE zum Ausdruck kommen könnte. Es liegt in meiner Natur, dass ich in langen Bögen denke, also nicht in abgeschlossen Stücken, sondern in langwierigen Prozessen, in denen jedes Stück ein Puzzleteil des Ganzen ist -
auch wenn das Stück kurz ist.
WDR, Großer Sendesaal. 19.1.2013
Maria de Alvear
Auftragsarbeit für den WDR
Sendereihe Ensembl[:E:]uropa
Ausführende
Ensemble Ostravská Banda
Josef Kubera: Klavier
Ars Choralis Coeln
Leitung: Petr Kotík
Uraufführung
19. Januar 2013
Ars Choralis Coeln
und
KlosterKlaenge VI
Klangwerkstatt - November, 31.10. - 3.11., Kolumba, Köln
3.11. 12.00, 13.00, 14.00, 15.00 im Diözesanmuseum, Kolumba, Köln
Kassia & Hildegard von Bingen