Carmina Divina

Die geistlichen Gesänge der Carmina Burana

„Carmina Burana“ – wer diesen Titel hört, denkt zuerst an Carl Orff, der 1935/36 Teile der mittelalterlichen Liedersammlung neu vertonte. Sein Ansatz hat einiges für sich: Schließlich weiß man, dass die rund 250 „Lieder aus (Benedikt)beuren“ keineswegs zum bloßen Rezitieren oder gar zum stillen Lesen gedacht waren. Allerdings fehlen in der Handschrift deutliche Hinweise auf die mit den Texten verbundenen Melodien. Selbst „Neumen“, also Zeichen, die wenigstens ungefähr den Melodieverlauf und Rhythmus andeuten, sind nur teilweise erhalten.

 

Warum also nicht Musik komponieren, um die Lieder aufführen zu können und vielleicht etwas vom Geist ihrer Zeit einzufangen? Maria Jonas und Ars Choralis Coeln haben für ihre Interpretation dennoch ein anderes Vorgehen gewählt: Sie nutzen Möglichkeiten der modernen Forschung, um trotz fehlender Noten doch noch die originale Musik zu ermitteln. Und erst wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, kommt die eigene Fantasie ins Spiel.

 

Im übrigen interessierte Orff sich für die weltlichen Frühlings-, Trink- und Liebeslieder aus dem Hauptteil der Sammlung, dessen Niederschrift man auf etwa 1230 datiert. Dagegen setzt Maria Jonas den Schwerpunkt auf geistliche Lieder aus dem Anhang der Carmina Burana. Er wurde erst im 14. Jahrhundert hinzugefügt, enthält aber nicht unbedingt die jüngeren Texte – manche von ihnen waren schon damals einige hundert Jahre alt. Ergänzt wird das Programm durch Lieder aus dem weltlichen Hauptteil: Es sind jedoch „Carmina moralia“, die von den Lastern der Welt, von der Vergänglichkeit irdischer Freuden handeln und daher gut zu den geistlichen Stücken passen.

 

Bei der Rekonstruktion der Musik stützt sich Maria Jonas auf andere mittelalterliche Quellen, in denen oftmals die gleichen Texte überliefert sind – dort allerdings mit Noten. Ähnlich verfuhr schon in den 1970er Jahren ein Spezialist wie René Clemencic, und von ihm konnte Jonas die musikalischen Einrichtungen einiger Lieder übernehmen.

 

Der Großteil ihres Programms geht jedoch auf eigene Nachforschungen zurück – im Zeitalter der Internet-Suchmaschinen lässt sich vieles finden, was noch vor kurzem wesentlich schwerer zugänglich war. So kann die Suchmaschinen-Eingabe eines Textfragments durchaus ergeben, dass ein Stück aus den Carmina Burana irgendwo in Frankreich, Italien oder Spanien mit kompletter Melodie aufgeschrieben wurde. Und genau diese Melodie, so nimmt man an, sangen auch die Nutzer der Benediktbeurer Handschrift.

 

Schließlich gab es in ihrer Zeit noch keine nationalen Musikstile, sondern eine gemeinsame, gesamteuropäische Klosterkultur. Sie spiegelt sich ja auch in der Sprache der Dichtungen: Der überwiegende Teil ist lateinisch; hinzu kommen einige Texte in der mittelhochdeutschen, aber auch der altfranzösischen und provenzalischen Volkssprache.

 

Wie Maria Jonas vorgeht, verdeutlicht ein Recherche-Erfolg, auf den sie besonders stolz ist: das „Magnificat“. Dieser psalmartige Lobgesang Marias aus dem Lukas-Evangelium zählt zu den bekanntesten liturgischen Texten – er ist Teil der Vesper, des liturgischen Abendgebets. Der Anhang der Carmina Burana überliefert das Magnificat allerdings in einer sehr ungewöhnlichen, vielleicht einmaligen Form, nämlich mit vielen „Tropierungen“.

 

Als Tropus bezeichnet man textliche und/oder musikalische Erweiterungen der liturgischen Stücke. Im Falle der Carmina Burana sind, wie gewöhnlich, nur die Textzusätze erhalten – doch zu jedem einzelnen von ihnen konnte Maria Jonas durch Quellenvergleich die zugehörige Melodie ermitteln. So wird das Magnificat nun mit eingeschobenen Antiphonen und Reponsorien (zwei Formen des Wechselgesangs) zu hören sein – eine zweite Uraufführung nach vielen Jahrhunderten.

 

Nicht immer bringt die Internet-Recherche solch spektakuläre Erfolge. Doch wenn die ursprüngliche Melodie nicht rekonstruierbar ist, sucht Maria Jonas eben eine andere aus der gleichen Zeit. Sie muss zum Inhalt und Ausdruck der Dichtung passen, vor allem aber zum Rhythmus, den der Text vorgibt.

 

Mancher Musikforscher würde ein solches Vorgehen vielleicht als unwissenschaftlich oder willkürlich kritisieren. Doch für die Methode spricht, dass die Lieder so überhaupt gesungen werden können.

 

Außerdem verfuhren die Sänger des Mittelalters nicht anders: Wann immer es möglich war, wählten sie für neue Texte eine bereits vorhandene Melodie aus. Solche Übertragungen (oft auch zwischen weltlichen und geistlichen Liedern) nennt man heute „Kontrafakta“.

 

Und die höfischen Sänger trugen im mittelalterlichen Frankreich einen bezeichnenden Namen, nämlich „Trobadors“ oder „Trouvères“. Er drückt aus, dass sie eher Melodien-Finder als Komponisten waren.

 

Einen besonders interessanten Fund machte Maria Jonas im Zusammenhang mit der „Bordesholmer Marienklage“. Dieses geistliche Spiel aus dem 15. Jahrhundert enthält ihr zufolge ein „unglaublich schönes“ Stück, das jedoch nur eine Strophe hat – was die Ensembleleiterin stets frustrierte. Nun entdeckte sie zwei weitere Strophen, die inhaltlich und rhythmisch genau passen, in einem Osterspiel aus dem Anhang der Carmina Burana. „Ghelavet sytu here min“ wird nun also mit der Bordesholmer Melodie und den kombinierten Texten beider Quellen zu hören sein.

 

Aus all dem wird klar, dass mittelalterliche Musik die heutigen Interpreten vor besondere Herausforderungen stellt; bevor man überhaupt proben kann, sind Vorarbeiten nötig. Und die sind mit dem Suchen und Finden der Melodien noch lange nicht abgeschlossen.

 

Eine weitere Frage betrifft den Rhythmus, der sich den Quellen oft gar nicht oder nur ungenau entnehmen lässt. Glücklicherweise sind bestimmte rhythmische Muster bekannt, und auch die Anordnung betonter und unbetonter Silben im Text gibt schon manchen Anhaltspunkt. Wichtig für den Klangeindruck ist außerdem die instrumentale Begleitung – oder eben der Verzicht auf Instrumente.

 

In der geistlichen Musik des Mittelalters gab es offenbar im Lauf der Jahrhunderte, aber auch in verschiedenen Regionen ganz unterschiedliche Lösungen. Bisweilen wurde die Mitwirkung von Instrumenten verboten – was allerdings nur beweist, dass sie möglich und üblich war. Vermutlich hing sie oft vom Anlass und den verfügbaren Ressourcen ab:

 

Bei festlichen Gelegenheiten standen sicher eher Instrumente zur Verfügung als beim täglichen Stundengebet. Aufgeschrieben wurden Begleitungen jedenfalls nicht, und deshalb verzichtet auch Ars Choralis Coeln (im Unterschied zu manchem anderen Ensemble) auf notierte Arrangements. Meist hat Maria Jonas zwar schon vorab eine Vorstellung, ob Instrumente zu einem Stück passen, und falls ja, welche. Doch was genau sie spielen, ergibt sich erst beim Proben – Borduntöne (liegende Grundtöne) sind oft möglich, außerdem das Mitspielen der Gesangslinien, Umspielungen der Melodie oder auch zwischen die Melodiephrasen eingeschobene Floskeln.

 

Dass ein großer Teil der mittelalterlichen Musik so unvollkommen überliefert ist, kann man sicherlich bedauern. Doch wer mit Maria Jonas spricht, gewinnt den Eindruck, dass sie viel lieber Möglichkeiten und Freiräume sehen möchte als nur Probleme. Dass sie die Quellenlage als Anreiz versteht, sich umso intensiver mit Stil und Repertoire der Zeit zu befassen – um dann auch der eigenen Kreativität Raum zu geben.

Text für das Programmheft der ION: Jürgen Ostmann

 

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Besetzung:

Ars Choralis Coeln