Italienische Laude aus den Codice Cortona & Florenz
Lieder einer geistigen Erneuerung
Das Unbehagen vieler Christen innerhalb der Institution Kirche ist keineswegs ein Phänomen unserer Zeit.
Bereits im Mittelalter hatten Spannungen zwischen der hierarchisch erstarrten Kirche und der volkstümlichen Religiosität dazu geführt, dass viele Gläubige ihr religiöses Leben außerhalb
liturgisch gebundener Riten fortsetzten im Sinne des heiligen Franz von Assisi, dem »poverello«, der sich von der kirchlichen Prunkentfaltung abgewandt hatte. Sie beriefen sich auf seine
Botschaft der geistigen Erneuerung, versammelten sich in Bruderschaften, den Compagnie delle Laude, zogen in Prozessionen durch die Straßen umbrischer Städte und Dörfer und sangen Lieder zu Ehren
Gottes, der Jungfrau Maria und der Heiligen.
Die Frömmigkeit der Laudesi war nicht an die liturgische Ordnung der Kirche gebunden, und ihre Musik entwickelte sich in einem Geist der Unabhängigkeit, Einfachheit und Volksverbundenheit.
Im Mittelpunkt ihrer Verehrung stand die Gottesmutter Maria: weit mehr als die Hälfte der überlieferten Lieder sind ihr gewidmet. Unsere Liedauswahl begleitet die Madonna auf ihrem Weg durch das Kirchenjahr – und so finden wir Lieder voll jubelnder Freude und tiefer Trauer, begegnen sowohl innig zärtlichen Weisen als auch überbordender italienische Lebenslust.
Die Nachfrage anderer Bruderschaften und der Wunsch, gelegentlich das eigene Repertoire zu erneuern, begünstigten die Kompilation dieser Loblieder im sogenannten Laudari. Nur zwei dieser Laude-Sammlungen sind komplett mit Texten und Musik erhalten: der Codex 91 der Accademia Etrusca von Cortona und der Codex Magliabechiano BR 18 der Nationalbibliothek in Florenz.
Die Lieder unseres Programms entstammen diesen beiden Manuskripten – den ersten, die vom Gebrauch des italienischen volgare, der Muttersprache, anstelle des Lateins in der Musik zeugen. Sie überliefern uns einen Schatz poetischer Texte, unmittelbar in ihrer Bildhaftigkeit, leidenschaftlich, innig und inbrünstig – gesungen auf einzigartige Melodien, deren Expressivität überwältigt und deren Einfachheit zu Herzen geht. Ihre Schöpfer finden wir nicht in den Kathedralen und Klöstern, Hütern des gregorianischen Gesangs und der liturgischen Polyphonie, sondern in den blühenden Städten der Toskana und Umbriens: die Laudesi waren Händler, Handwerker und Künstler, und es mag wohl der ein oder andere bekannte Name darunter sein.
Den Bruderschaften war die Qualität ihrer Musik und deren Aufführung offenbar nicht gleichgültig. Aus den damaligen Rechnungsbüchern wissen wir, dass man für die Begleitung der Laude professionelle Instrumentalisten engagierte; und für hohe Kirchenfeste, wenn die Musik besonders prächtig sein sollte, lud man eigens externe Sänger ein, die die Kunst der Polyphonie beherrschten, aber auch in der Lage waren, den weitschweifigen Melismen der vor allem aus der Florentiner Sammlung stammenden Melodien zu folgen – die Refrains sangen dann alle Laudesi aus vollem Herzen.
»Canto Novello« – Lieder einer geistigen Erneuerung, einer sozialen und vor allem einer musikalischen: ein Schmelztiegel, ein Konglomerat aus der jahrhundertealten Tradition der Musik der christlichen Kirche und der reichen Poesie des Volkes, individuell, kraftvoll und mitreißend.
KlosterKlaenge VI
Klangwerkstatt - November, 31.10. - 3.11., Kolumba, Köln
3.11. 12.00, 13.00, 14.00, 15.00 im Diözesanmuseum, Kolumba, Köln
Kassia & Hildegard von Bingen