Hildegard von Bingen - Marienvesper

Zu Hildegard von Bingen und dem Kontext ihrer Lieder

 

Hildegard von Bingen war eine außergewöhnliche Frau ihrer Zeit. Die rheinische Äbtissin schrieb eine Unmenge an Werken, die sich mit Fragen der Theologie, mit ihren eigenen Visionen und mit der Musik befassen. Hildegard war die erste deutsche Naturforscherin, die erste schreibende Ärztin und Heilerin, Komponistin, Malerin, Theologin und Äbtissin des von ihr gegründeten benediktinischen Klosters Rupertsberg am Rhein. Als geistige Führerin ihrer Zeit erteilte sie Päpsten und Kaisern Rat und Weisung und scheute auch nicht die Kritik an deren Entscheidungen. "Prophetissa teutonica" hat man sie schon zu Lebzeiten genannt, eine Sybille vom Rhein

 

Der Jungfrau und Mutter Gottes Maria hat Hildegard die meisten ihrer Hymnen, Antiphone und Responsorien gewidmet. Sie stand im Mittelpunkt ihrer Verehrung, sie war die verkörperlichte „prima materia“ (Urschoß). Materia: ein Schlüsselwort bei Hildegard, denn in ihm steckt das Wort „mater“ gleich Mutter. Und ohne diese „prima materia“ war auch Gottes Schöpfung nicht möglich, so Hildegards Sicht der Schöpfung.

 


Zur Liedauswahl und Programm
Uns beschäftigt, seit wir die Lieder von Hildegard singen, sehr die Frage, wann und wo denn ihre Musik erklang.

 

In den Klöstern bestimmt das Stundengebet (Horen) seit je her den Ablauf eines Tages. Im Mittelalter wurde der Tag in acht Phasen eingeteilt, denen eigene liturgische Gesänge zugeordnet wurden. Für unsere CD haben wir eine der großen Horen, die Vesper, die zum Sonnenuntergang gebetet wurde, ausgesucht. In ihrem Mittelpunkt steht das tägliche „Magnificat“ – das Jubellied der Maria. Es ist anzunehmen, dass die Lieder von Hildegard auch während der Vesper in ihrem Kloster erklangen, denn die Kompositionen der Hildegard von Bingen sind ohne jeden Zweifel liturgische Musik und fanden Verwendung in der Feier des Gottesdienstes und der Stundengebete.

 

Im Zuge des Bemühens um historische Aufführungspraxis ist es darum ein wichtiger Aspekt, sich zu vergegenwärtigen, dass Konzerte mit liturgischer Musik außerhalb des gottesdienstlichen Kontextes im 12. Jahrhundert völlig unbekannt waren. Die Anlehnung dieses Programms an den Aufbau einer Vesper mit Liedern der Hildegard von Bingen aber auch mit den dazugehörigen Psalmen und ihren Psalmtönen mögen uns wie auch den Zuhörern dabei helfen, diese Zusammenhänge zu erleben zu fühlen und vielleicht sogar zu begreifen.

 

Zwei Marien-Offizien aus zwei Antiphonarien der Kölner Diözesan- und Dombibliothek aus dem 13. Jahrhundert dienen uns dabei als Rahmen. Sie wurden am 15. August, Mariä Himmelfahrt, dem wichtigsten Marienfest im Jahr (heute noch ein Feiertag in einigen Bundesländern und vor allem in Italien) im Kölner Clarissen Kloster gesungen.

 

So kann ACC zwei seiner wichtigsten Ziele in diesem Projekt verwirklichen: zu einem die Musik der Hildegard von Bingen zu singen, zu erforschen und zu pflegen, womit sich das Ensemble national und international schon einen Namen machen konnte – und zum anderen die wissenschaftlichen Erschließung und Erforschung von mittelalterlichen musikalischen Handschriften Kölns und deren Aufführung weiter zu verfolgen.

 


Zum Aufnahmeort
Kloster Eberbach im Rheingau ist nicht nur ein besonderer Ort – es ist das einzige Kloster im Rheingau aus der Zeit der Hildegard von Bingen, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren Klöstern zu ihren Lebzeiten entstanden ist und heute noch existiert. Ein Kontakt zwischen ihr und den Mönchen des Klosters Eberbach ist dokumentiert. Und mehr noch: den Mönchen von Kloster Eberbach ist es zu verdanken, dass Hildegard von Bingen nicht nur eine "Lokalheilige" blieb, sondern in ganz Europa auch lange nach ihrem Tod bekannt wurde. Sie schrieben ein "Who is who" des Mittelalters, in dem sie Hildegard von Bingen einen prominenten Platz einräumten.

 

Zwei Proben von ACC vor den Aufnahmen in Kloster Eberbach haben uns ein außergewöhnliches Klangerlebnis beschert und gezeigt, daß nur dort eine CD-Aufnahme mit dieser Musik für uns in Frage kommt. Doch nicht nur das: es entstehen völlig neue Klänge, fast möchte ich sagen: neue Stücke, so dass eine Aufnahme in dieser Ausnahme-Akustik in unmittelbarer Nähe zu ihren leider nicht mehr existierenden Klöstern auch ein Beitrag zur Aufführungspraxis der Musik der Hildegard von Bingen darstellen kann.

 

Nicht nur unsere Stimmen, sondern auch der Kirchenraum ist unser Instrument – und ein Instrument wie der Kirchenraum des Klosters Eberbach ermöglicht eine klanglich herausragende Aufnahme.

 


In Memoriam Barbara Thornton
Im 10. Jahr ihres Todes möchte ich Barbara Thornton diese CD-Produktion widmen. Sie ist immer noch der Geist, der mich inspiriert und leitet. Es ist ein Dankeschön an diese großartige Künstlerin, ohne deren Vorarbeit mein jetziges Tun nicht denkar wäre. Sie hat den Weg geebnet, auf dem ich und Ars Choralis Coeln nun weiter gehen dürfen. Vor 900 Jahren wurde Hildegard von Bingen geboren – vor 10 Jahren starb Barbara Thornton. Dank an beide: Barbara und Hildegard.

 

ARS CHORALIS COELN
Ltg. Maria Jonas

 

Gesang
Stefanie Brijoux, Maria Jonas, Petra Koerdt, Uta Kirsten, Elodie Mourot, Pamela Petsch, Cora Schmeiser, Amanda Simmons, Christine Wehler, Sylvia Dörnemann

 

Flöten
Lucia Mense

 

Fideln
Susanne Ansorg

 

Portativ
Bettina Strübel


INVITATORIUM
• In honore beatissime / Kölner Antiphonar, 13.Jh
• Psalm 94: Venite exultemus

1. ANTIPHONA
• O virtus sapientie / Hildegard von Bingen (1098-1179)
• Psalm 109: Dixit Dominus
2. ANTIPHONA DE SANCTA MARIA
• Cum erubuerint / Hildegard von Bingen
• Psalm 112: Laudate pueri
3. ANTIPHONA DE SANCTA MARIA
• Quia ergo femina / Hildegard von Bingen
• Psalm 121 : Lætatus sum
4. ANTIPHONA DE SANCTA MARIA
• Benedicta filia / Kölner Antiphonar, 13. Jh.
• Psalm126: Nisi Dominus
5. ANTIPHONA DE SANCTA MARIA
• O splendidissima gemma / Hildegard von Bingen
• Psalm 147: Lauda, Jerusalem

Antiphonales Zwischenspiel
• O felix instrumentum

RESPONSORIUM
• O vis eternitatis / Hildegard von Bingen
SEQUENTIA DE SANCTA MARIA
• O virga ac diadema / Hildegard von Bingen
RESPONSORIUM
• O quam pretiosa / Hildegard von Bingen
SYMPHONIA DE SANCTA MARIA
• O viridissima virga, ave / Hildegard von Bingen

ANTIPHONA super MAGNIFICAT
• Hodie Maria Virgo / Kölner Antiphonar, 13.Jh.
• Magnificat
HYMNUS
• Gaude Visceribus / Kölner Antiphonar, 13.Jh.